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Miguel

Sobald sie in den Raum kam, wusste Miguel, dass er sie töten würde. Nicht, dass sie ihm hätte gefährlich werden können. Nicht, dass sie ihm etwas getan hätte. Nichts von dem. Und dennoch: Er würde sie töten; alleine schon die Vorstellung, sie könnte ihn belästigen, löste diesen Mordinstinkt in ihm aus.

Er beobachtete sie. Er hatte den Eindruck, niemand außer ihm selbst würde sie überhaupt wahrnehmen.

Er bewunderte sie. Er wusste, dass er sich niemals so gewandt in diesem Raum würde bewegen können wie sie. Fast dursichtig, dabei neugierig und völlig ungeniert. Dennoch hatte offenbar niemand außer Miguel ihr Erscheinen bemerkt.

Wer war sie? Hatte sie Familie? Woher kam sie? Würde sie ihn in Ruhe lassen, oder würde sie ihn belästigen? Die Antwort gab er sich selbst: Natürlich würde sie ihn belästigen. Wie alle anderen vor ihr.

Miguel überlegte kurz, ob er diesen Meuchelmord noch vor dem Essen begehen sollte. Eigentlich wollte er dies unbedingt tun. Allerdings würde er abwarten müssen, ob sich eine günstige Gelegenheit ergibt. Schließlich ist so ein Mord nicht immer einfach. Manchmal schon. Miguel hatte große Erfahrung in diesen Dingen; und dennoch ließen sie ihn nicht in Ruhe. Oder gerade deswegen ?

Miguel hatte beschlossen, sein Mordwerkzeug neben sich zu legen. Keiner im Raum nahm davon Notiz. Aber sie hatten es entdeckt. Und sie wussten, was das bedeutet. Sie alle kannten Miguel und wussten, dass das was folgen würde, unvermeidbar war. Nicht, dass es einen von ihnen stören würde, dazu waren sie alle zu abgestumpft. Allen war klar, dass Miguel ihre Witterung aufgenommen hatte. Immer war er der erste, der sie wahrnehmen konnte.

In der Tat: Miguel war ein Meister im Aufspüren. Lange vor allen anderen nahm er sie wahr, entdeckte sie an Stellen, an denen die Anderen gar nicht nachgesehen hätten.

Deshalb machte sich keiner Gedanken, als Miguel die Tatwaffe in Griffweite legte. Obwohl nur er sie sah, wussten sie, dass sie im Raum war.

Seit Jahren ging dieser Kampf. Obwohl sie mit Miguel einen absoluten Spezialisten in ihren Reihen hatten, war ihnen klar, dass sie diesen Kampf niemals würden gewinnen können. Sie gewannen nahezu jede Schlacht, aber den Krieg würden sie nie gewinnen.

Womit hatten sie es nicht schon versucht: Höchstmoderne elektronische Waffen, Chemie. Aber alles war umsonst. Sie waren zu Viele.

Es gab Tage, an denen man meinte, sie hätten sich jetzt endlich zurückgezogen. In den Wintern hatte man völlig Ruhe. Den mochten sie gar nicht. Aber mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks kamen sie wieder, sobald die ersten Pflanzen blühten. Dabei waren sie alles andere als Vegetarier!

Esther brachte das Essen herein. Die Unsichtbare schien immer noch im Raum zu sein. Und immer noch war sie am Leben. Bereit, sofort und unmittelbar gnadenlos quasi aus der Deckung zuzuschlagen. Jetzt hatte sogar Miguel ihre Witterung verloren! Hatte sie sich zurückgezogen? Angst vor Miguel bekommen? Oder wartete sie nur auf eine günstige Gelegenheit?

Wie immer in einem solchen Fall wurde das Essen trotzdem serviert. Selbstverständlich ! Man ignorierte den Feind. Das hatten sie gelernt. Es nutzte nichts, sich von ihm beeinflussen zu lassen. Sie kamen, oder sie kamen eben nicht. Voraussagen ließ sich das nie.

Ihr Ende kam unvermittelt, plötzlich und unweigerlich: Gerade, als Miguel sein Glas Roja in die Hand nehmen wollte, setzte sie sich völlig ungeniert auf seinen unbekleideten Oberschenkel - und stach zu !

Mit der flachen Hand erschlug sie Miguel. Ohne sein Mordinstrument. Es hätte zu lange gedauert.

„Hast Du sie erwischt ?“ fragte Esther.

„Ja, aber vorher hat mich das Biest gestochen“ sagte Miguel und warf die Leiche der Steckmücke unter den Tisch. Danach aßen sie munter weiter. Nur Miguel kratzte sich hin und wieder am Oberschenkel.

Miguel

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