Mein Chef und die Schuhe seines Vaters

Eine skurrile Geschichte, wie man sie fast nur in Wien erleben kann und nur mit meinem früheren Chef: Dem legendären Ravensburger Werbe-Guru und Kunstsammler Peter Selinka.

Die Geschichte ereignete sich Anfang der 70-er Jahre, also ungefähr vor 50 Jahren. Das Wien von damals hatte bei Weitem nicht den Glanz von heute; sein etwas morbider Charme erinnerte mich fast an das Ost-Berlin dieser Zeit, wo ich einige Jahre zuvor war. Nur halt schöner. Viel schöner, was kein Wunder ist; hatte doch Wien viel weniger Kriegslast zu tragen, als Berlin. Aber die Häuser waren noch im Nachkriegs-Dunkelgrau und in manchen Gegenden hatte man das Gefühl, dass einem demnächst Harry Lime aus dem Orson-Welles-Kultfilm Der dritte Mann begegnen würde. Das Moderne westdeutscher Großstädte fehlte bis auf wenige Ausnahmen. Was sich später als großes Glück herausstellen sollte: Dadurch, dass die Wiener etwas später dran waren, konnten die ganzen Bausünden der 60-er und 70-er Jahre zum allergrößten Teil vermieden werden und die Stadt jenen Glanz entwickeln, der sie heute zu einem der attraktivsten Touristenziele weltweit gemacht hat.

Kurzum: Peter Selinka besuchte mich in unserer 1973 gegründeten Filiale in Wien, die ich in seinem Auftrag gerade gegründet hatte. Wie es dem Anspruch von Peter Selinka entsprach, residierten wir vornehm in der Mölker Bastei, direkt neben der OPEC und unweit vom Beethovenhaus und dem Dreimäderlhaus.

Am Nachmittag wollte mein Chef einen Spaziergang durch die Innenstadt machen. Gemeinsam gingen wir in die Region Staatsoper – Hotel Sacher – Kärntner Straße zum Flanieren. Bei einem kurzen Abstecher in der Walfischgasse blieb Peter Selinka plötzlich vor einem unscheinbaren kleinen Geschäft stehen. „Das gibt’s ja nicht;“ staunte er, „in diesem Geschäft ließ mein Vater immer seine Schuhe machen!“ Und tatsächlich stand über dem Eingang in ziemlich altmodischen Lettern: Bela Nagý (Noodsch ausgesprochen), Schuhmanufaktur. Sofort betraten wir das Geschäft. Und jetzt war ich es, der staunte. So etwas Vornehmes hatte ich lange nicht gesehen. Sofort erkannte ich, dass das hier das Schuhgeschäft für die Schönen und die Reichen war.

Alleine die Bilder der Kundschaft, die an den Wänden hingen, rangen mir höchste Bewunderung ab. Von Prinz Phillipp, dem Gatten der englischen Königin, über den Schah von Persien bis zu König Faisal von Saudi Arabien waren hier alle Kunden, die Rang und Namen zu haben schienen auf dieser Welt. Und es hing ein Zeitungsartikel der PRESSE (etwa vergleichbar mit der WELT oder der SÜDDEUTSCHEN) vom Jahr 1961, auf dem stand: Kennedy und Chrutschschow: Das einzig Gemeinsame war, dass sie beim selben Schuhmacher neue Schuhe bestellten. Eben bei diesem Bela Nagyý. Später erfuhr ich von Herrn Nagý, dass sie nicht in sein Geschäft kamen, sondern dass er in ihre Residenzen gehen musste, um Maß zu nehmen.

Herr Materna, der meinen Chef beriet sprach jenen unvergleichlichen Wiener Akzent, den man gemeinhin auch als „Schönbrunner Hochdeutsch“ bezeichnet. Etwas näselnd, ein bisschen hochnäsig auch, fragte er nach seinem Begehr. Schuhe möchte er sich machen lassen. Genau wie sein Vater, der schon vor vielen Jahren hier Kunde gewesen sei.

„Wie hieß den der gnädige Herr Papa?“ näselte Herr Materna. Der Chef sagte ihm den Namen und nannte ihm den Wohnort, der im Sudetenland lag. Herr Materna entschuldigte sich kurz und kam nach ein paar Minuten zurück.

„Sehen’S. gnädiger Herr. Wir haben sogar noch die Vorlagen für die Schuhe Ihres Herrn Papa.“

„Wunderbar“, entgegnete Peter Selinka. „Dann brauchen wir nicht einmal Maß zu nehmen. Ich habe nämlich genau die Schuhgröße meines Vaters. Die passen mir wie angegossen!“

„Schön, schön“, näselte Herr Materna, „aber sicherheitshalber sollten wir doch eine Kontrolle machen. Schließlich verändern sich die Füße im Laufe unseres Lebens“.

Mein Chef wollte aber nicht. Es sei nicht nötig. Er hätte während des Krieges Schuhe seines Vaters aus eben dieser Schuhmanufaktur getragen und die hätten ihm gepasst, wie noch nie Schuhe zuvor.

Bei der Gelegenheit verriet er mir, dass sein Vater Geheimdienst-Offizier beim letzten österreichischen Kaiser, nämlich Karl, gewesen sei.

Es wurde ein Termin vereinbart, bei dem ich die Schuhe abholen konnte und ihm nach Ravensburg mitbringen durfte.

Ob sie ihm wirklich wie angegossen gepasst haben, bezweifle ich immer noch; es waren die Einzigen, die er nach meiner Erinnerung dort fertigen ließ. Vermutlich hatte Herr Materna doch recht und eine Kontrolle wäre offenbar doch nützlich gewesen.

Anmerkung für Wien-Touristen: Der Anruf kam prompt: Eine frühere Mitarbeiterin von mir schickte mir sofort eine Mail, dass es das Geschäft immer noch gibt: Es heißt nicht mehr Bela Nagý, sondern Materna und ist in die Mahlerstraße umgezogen. Also hat sehr wahrscheinlich der hochnäsig näselnde Herr Materna das Geschäft übernommen und seine Nachkommen haben es weitergeführt. Denn dass der Herr Materna von damals noch lebt, glaube ich kaum.

Danke, liebe Hannah.

Mein Chef und die Schuhe seines Vaters

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