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Grusel mit Dusel

Gruselromane sind ein ganz anderes Kaliber als Krimis. Der Großmeister des Grusels
ist zweifelsfrei Stephen King. Sein Werk „Friedhof der Kuscheltiere“ ist das Gruseligste,
was ich jemals gelesen habe. Wenn Du im Bett liegst, schlafen solltest, aber den Thriller
nicht weglegen kannst, obwohl oder gerade weil es dir die Nackenhaare sträubt, weil
dir ein kalter Schauer nach dem andern den Rücken hoch und runter läuft, dann liest Du
bestimmt gerade einen King.

Ein Gruselerlebnis der anderen Art erlebte ich Ende der 80-er Jahre auf dem Friedhof
Baumgarten in Wien-Penzing. Gestatten Sie mir eine Ausholbewegung, damit ich Ihnen
die Situation erklären kann.

Mein bester Freund Bruno war im Jahr zuvor im Alter von nur 47 Jahren an einer heimtückischen
Krankheit verstorben. Bruno war ein Kerl wie ein Baum. Mir war es nicht klar, wie ein solcher Mann
mit seinen fast zwei Metern und einem Gewicht von 118 Kilogramm so elend zugrunde gehen konnte.
Ganz besonders mein letzter Besuch bei ihm bleibt mir ewig in Erinnerung. Ich hatte mit den
Tränen zu kämpfen, weil mir klar war, dass das nun das Ende ist. Ich wollte ihm aber diese Schwäche
nicht zeigen, warum auch immer. Wenige Tage später war Bruno tot.

Zu seinem ersten Jahrestag hatte ich mit meinem anderen Freund Thomas vereinbart, das Grab
unseres gemeinsamen Freundes zu besuchen. Nicht, dass wir es sonst nicht besucht hätten, aber
dieser erste Jahrestag war ein Pflichttermin.

Nachdem Bruno im Oktober verstarb, war dieser Termin zwangsläufig auch im Herbst. Und in Wien
wird es gut eine halbe Stunde früher dunkel als in Oberschwaben. Im Herbst und Winter sogar ein
bisschen mehr.

Der Oktober war in meinem damaligen Job in der Werbeagentur ein richtiger Stressmonat. Die Budgets
fürs nächste Jahr mussten bei den Kunden besprochen und geplant werden. Also wurde es nichts mit
dem vereinbarten Termin um 15 Uhr. Es war später, fast schon dunkel, als wir den Friedhof erreichten.
Und viel Zeit konnten wir auch nicht dort verbringen, denn es wartete noch eine Menge Arbeit auf uns.

Also, rein in den Friedhof, zu Brunos Grab, eine Gedenkminute abhalten und wieder zurück an die Arbeit.
Denkste. Jetzt kam die gruseligste Szene meines bisherigen Lebens. Wieder eine Vorabinformation: In Wien
überwintern stattliche Saatkrähen mit einer Flügelspannweite von bis zu einem Meter. Weil sie aus den
Tiefen Russlands nach Ost-Österreich zum Überwintern kommen, werden sie in Wien manchmal auch als
Russen-Vögel bezeichnet.

Was wir nicht wussten: Der Friedhof in Baumgarten zählte zu den bevorzugten Nächtigungsquartieren
dieser überaus schlauen Tiere. Und just, als die Dämmerung dabei war, in die Dunkelheit überzugehen,
trafen Tausende dieser Vögel auf dem Friedhof ein. Wie auf Befehl. Sie besetzten die zuvor kahlen Bäume,
besetzten jeden Grabstein. Auf kleinen Grabsteinen saßen zwei, auf großen bis zu fünf. Alle Bänke, alle
Brunnen, ja sogar die bereitgestellten Schubkarren und Gießkannen waren besetzt. Die zuvor kahlen
Bäume waren wieder prall gefüllt wie im Sommer; nur halt schwarz statt grün.

Jetzt erst bemerkte ich, dass Thomas und ich ganz offensichtlich die einzigen Gäste waren, die sich
noch auf dem riesigen Friedhof befanden. Ich blickte mich um und sah in tausende Augenpaare, die,
so empfand ich das, mich alle anstarrten.

Alles um uns war im wahrsten Sinne des Wortes kohlrabenschwarz. Inmitten dieses schwarzen Vorhangs
sah ich plötzlich ein grünlich schimmerndes Gesicht. Es war Thomas. Wie versteinert stand er da; offen-
sichtlich unfähig, sich zu artikulieren, oder zu bewegen.
„Ich glaube, wir sollten gehen“, meinte ich.
„Jo, i fiircht mi!“

Für die Leser meiner Bücher sei hier erwähnt, dass mir Thomas als Vorbild für den forensischen Psychiater
Dr. Gernot Heubl diente. Thomas, ein hochintelligenter Mann mit einer barocken Erscheinung, war mit
dieser Situation offenbar heillos überfordert.

Schnellen Schrittes stapfte ich Richtung Ausgang, Thomas immer hinter mir. Und immer hatte ich dieses
komische Gefühl, die Raben würden in Kürze wie bei Alfred Hitchcocks „Die Vögel“ angreifen. Das taten
die natürlich nicht, denn sie haben eine gewisse Scheu vor Menschen, aber der Grusel hielt eine noch
schlimmere Überraschung für uns bereit.

Als wir das Tor endlich erreichten. Zu! Verschlossen! Sch…. Verdammter Mist. Was tun? Thomas war jetzt
der Ohnmacht nahe. Und auch ich hatte Angst, demnächst in Panik zu geraten. Das Tor war zu hoch, um
darüber zu klettern. Zudem waren oben pfeilartigen Spitzen angebracht. Blieb nur, über die Friedhofsmauer
zu klettern. Aber der nächste Schock: Jeder Zentimeter der Friedhofsmauer war ebenfalls von Raben besetzt.
Der Blick aus diesen Augen der Vögel machte uns klar: Die würden keinen Millimeter weichen.
Das war jetzt kein Hokuspokus von Stephen King mehr, das war jetzt Grusel live!

Heute würde man mit dem Handy den Notruf wählen. In den 80-er Jahren? Nix da. Das Handy, wie wir es
heute kennen, ein Luxusartikel für wenige Privilegierte.
Es blieb nur noch Eines: Rufen und Schreien. Vielleicht würden wir erhört?
„Hallo“. Und wieder „Hallo“ So ging das gut eine Viertelstunde. Jetzt war ich selber kurz vor dem Durchdrehen.
Heiser fast schon vom dauernden Rufen. Nicht nur, dass mir das Übernachten in dieser Umgebung schon
unvorstellbar schien, nein es wurde auch noch ziemlich kalt. Minusgrade soll es in dieser Nacht in
Wien geben, hatte mein Lieblingssender Ö3 noch kurz zuvor gemeldet. Wirklich grauenhafte Aussichten.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, kam die Rettung in Person des Friedhofwärters. Er schloss die Türe auf.
„No do hams aber a Glück g‘habt die Herren. A Radler hot Sie rufen ghört und is mir nachgfahren und hot
g‘maant, do sann no welche drinnen. Homs denn die Schilderln net glesen? Weil die ganzen Russen-Vögel kommen
sperren wir mit Einbruch der Dunkelheit zu.“

Haben wir natürlich nicht. Wieder einmal wurde mir vor Augen geführt: Wer lesen kann, ist eindeutig im
Vorteil.

Leider konnten wir den Radler nicht ausfindig machen. Er war unser Retter in der Not. Ihn hätten wir an diesem
Abend garantiert zum Heurigen eingeladen. An Arbeiten war an diesem Tag ohnehin nicht mehr zu denken. Zu tief
saß der Schock.

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