Grauenvolle Weihnachtstragödie

Sonderzug mit Kindern verunglückt bei Markdorf-106 Tote

Woher kommt es, dass das zweitschlimmste Zugunglück, das jemals in Deutschland geschah, nahezu vollkommen unbekannt ist; noch dazu ganz in der Nähe des Bodensees? Die Lösung ist so einfach, wie sie zynisch ist: Im Reich des Nationalsozialismus geschahen schwere Unfälle durch menschliches Versagen nicht. Und wenn doch, dann werden sie –so gut wie möglich- verschwiegen. Was also ist damals passiert? Wieso ist so wenig bekannt; immerhin waren mehr Todesopfer zu beklagen, als bei der ICE -Tragödie von Eschede.

Als ob das Szenario nicht schon gespenstisch genug gewesen wäre an jenem Abend des 22. Dezember des Jahres 1939: Eine kühle, neblige Winternacht. Wegen des Kriegszustandes ist die gesamte Gegend verdunkelt am deutschen Ufer um den See. Zudem: Am selben Nachmittag ereignete sich in Genthin bei Magdeburg das schlimmste Unglück der deutschen Bahngeschichte, als zwei Schnellzüge ineinander rasten und über 250 Tote zu beklagen waren. Dass sich am selben Abend auch noch der zweitschlimmste Unfall ereignet hat, dazu noch am Bodensee, ist bis zum heutigen Tage kaum fassbar.

Es ist kurz nach 22 Uhr, als der zuständige Beamte im Bahnhof Markdorf dem allabendlichen Kohlenzug von Radolfzell nach Lindau die freie Durchfahrt durch den Bahnhof gewährt. Nichtsahnend, dass ihm damit ein folgenschwerer, tragischer Irrtum unterläuft; er hat nämlich vergessen, dass sich zu gleicher Zeit von Friedrichshafen her ein Sonderzug auf der eingleisigen Strecke nähert.

Dieser Sonderzug sollte Bewohner (vor allem Kinder) aus Oberstdorf ins südbadische Mühlheim bringen. Wegen des am 1. September begonnen Krieges hatte man die Kinder von der französischen Grenze weg ins Allgäu befördert, weil man befürchtete, dass Frankreich unmittelbar angreifen würde. Nachdem sich das nicht bestätigt hatte, wollte man die Kinder, die vorwiegend aus der Gegend um Weil am Rhein stammten, wenigstens zu Weihnachten wieder nach Hause gehen lassen. So herrschte im Zug eine fröhliche, ausgelassene Stimmung, voller Vorfreude auf das Wiedersehen und das Weihnachtsfest mit den Eltern. Viele Eltern waren schon tags zuvor mit dem Sonderzug nach Oberstdorf gekommen, um ihre Kinder abzuholen.

Eigentlich hätte der Kohlenzug in Markdorf anhalten müssen und ein Zugbegleiter auf dem letzten Waggon stehen und den Zug beim Bahnhofsbeamten abwinken müssen, doch alltägliche Routine und menschliches Versagen verhinderten dies. Dem Zugbegleiter war es zu kalt, weshalb er sich im Waggon direkt hinter der Lokomotive aufhielt, wo es wesentlich wärmer war. Während des Aufenthaltes im Bahnhof Markdorf hätte der Beamte den Zug im Bahnhof Kluftern anmelden müssen, erst danach hätte er den Kohlenzug auf die Strecke schicken dürfen. Aber der Zug fuhr einfach durch Markdorf durch.

Kaum hatte er den Bahnhof Markdorf passiert, meldete der Bahnhof Kluftern den Sonderzug aus Oberstdorf. Jetzt wurde dem Beamten schlagartig sein Irrtum bewusst und er versuchte zu retten, was (nicht mehr) zu retten war. Mit seiner roten Signallampe rannte er voller Panik dem Zug hinterher, um ihn zum Anhalten zu bringen. Was nicht gelang, weil sich der Zugbegleiter ja nicht wie vorgeschrieben auf dem letzten Wagen befand. So nahm das Grauen seinen Lauf: Kurz nach der Bahnunterführung bei Lipbach stießen beide Züge bei voller Fahrt zusammen. Ein ohrenbetäubender Lärm erschütterte die ganze Gegend. Viele Bewohner dachten an einen Bombenangriff.

Einhundert Personen waren sofort tot; sechs weitere starben in den folgenden zwei Tagen. Am ersten Weihnachtsfeiertag fand in Markdorf auf dem Marktplatz eine Trauerfeier statt. Der gesamte Marktplatz war voll mit Särgen. Für die Angehörigen und viele Markdorfer Bürger das schlimmste Weihnachtsfest ihres Lebens. Und sehr wahrscheinlich auch für den Bahnbeamten, der hinterher zu drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Verglichen mit den drakonischen Strafen, welche die Nazis sonst verhängten, ein vergleichsweise mildes Urteil.





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