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Ewald und Paula

Liebe LeserInnen, dies hätte eigentlich der Nachfolgeroman von „Endstation Biberach“ werden sollen, weil er sich auch mit häuslicher Gewalt befasst. Mit zunehmender Dauer während der erforderlichen Recherche- und Schreibarbeiten wurde mir aber bewusst, dass der Plot für ein Buch nicht ausreicht. Es wäre ein sehr dürftiges Büchlein geworden. Aus diesem Grunde habe ich das Thema eingemottet. Jetzt habe ich es wieder entdeckt und mir gedacht, es auf meiner Homepage als Kurgeschichte zu veröffentlichen. Natürlich musste ich die Story dafür weiter kürzen. Vielleicht haben Sie ja trotzdem eine Freude damit. Schreiben Sie mir doch einfach auf dem Kontaktformular, was Sie von der Story halten.



Nach über 50 Jahren wird Ludwig Hirschberger bei einer Fall-Analyse, die er in einem Güterbahnhof in Oberösterreich machen musste an einen mysteriösen Todesfall in seiner frühen Kindheit erinnert. Der an sich wenig spektakuläre Fall ruft Ludwig aber ein Ereignis aus seiner Kindheit in Erinnerung, als er während der Schulferien seinen Patenokel besuchte, der sein Geschäft ebenfalls in einem Güterbahnhof hatte. Fast jedes Jahr verbrachte er dort seine Schulferien. Nie konnte er dieses schwerwiegende Ereignis vergessen. Verdrängen ja, aber nicht vergessen. Spontan entscheidet er sich, gleich nach seiner Pensionierung, die in ungefähr zwei Monaten erfolgen sollte, den Fall aufzugreifen und ihn als „Cold Case“ selbst zu untersuchen. Schließlich wurde er ungewollt in diesen Todesfall als Kind involviert.

Schon als er diese Halle des Güterbahnhofs betrat, erinnerte ihn der Geruch an den Güterschuppen in jener kleinen Stadt am Neckar, etwas südlich von Stuttgart, in dem sein Patenonkel als „bahnamtlicher Rollfuhrunternehmer“ tätig war. Das bedeutete nichts anderes, als dass er die Frachtsendungen, die mit der Bahn auf dem Bahnhof ankamen, an die zuständigen Firmen, oder Personen, die als Empfänger angegeben waren, übergeben musste. Das geschah auf zweierlei Arten: Entweder die Personen holten sich diese Sendungen im Güterschuppen ab, oder aber, was meistens der Fall war, man fuhr in einem kleineren LKW zu den Empfängern hin, die dann gegen ein gewisses Entgelt die Sendungen direkt vor Ort in Empfang nehmen konnten.
Nachdem man im Jahr 1959 von einer Urlaubsreise bei der Familie Hirschberger in Biberach weit entfernt war, schickte man den 10-jährigen Ludwig in die „Ferien“ zum Patenonkel. Der war sowieso von der Eisenbahn fasziniert und trieb sich so oft sich die Möglichkeit ergab, auf dem Güterbahnhof herum. Man war den Zügen dort so nah. Außerdem fuhren dort ganz andere Züge, als in seiner Heimatstadt Biberach, wo die Dampflokomotiven die Züge zogen.
Hier, wo die Bahn elektrifiziert war, waren es viel modernere Lokomotiven, welche den Zügen voran waren. Besonders die modernen roten Triebwagenzüge imponierten dem kleinen Ludwig mächtig.“ Eierköpfe“, nannte man sie, was er gar nicht verstand. Wenn er nicht am Güterbahnhof war, hielt er sich an der Bahnschranke in der Nähe des Bahnhofs auf. Auch die blaue E-Lok, die er zuhause auf seiner Märklin-Eisenbahn hatte, fuhr hin und wieder am Güterschuppen vorbei.

Aber auch im Büro des Onkels ging es höchst interessant zu: Der Papierkram bei den Bahnsendungen war gewaltig. Für jede Sendung, die die Bundesbahn an den Spediteur übergab, war ein Papier in dreifacher Ausfertigung notwendig. Eines für die Bundebahn, welches der Onkel mittels Stempel und Unterschrift bestätigen musste; Eines für den Onkel selbst und ein Exemplar für den End-Empfänger. Auf jedem Formular waren mindestens fünf Stempel notwendig, sodass im Büro eine tagtägliche Stempelorgie stattfand. Ludwig interessierte sich dafür, wohin die Waren alle gingen und sein Onkel fragte ihn zu seiner großen Freude, ob er vielleicht einmal mit einem Fahrer einen Tag unterwegs sein wolle. Der wollte natürlich und so durfte er mit Ewald Pohl, einem der LKW Fahrer, mitfahren. Ewald Pohl war ungefähr einen Meter fünfundneunzig groß und von sehr kräftiger Statur.
„I hoiß Ewald, zo mir brauchschd ed Herr saga“, meinte der Mann, nachdem ihn Ludwig mit Sie angeredet hatte. Er fuhr mit ihm kreuz und quer durch die Stadt, lieferte bei Firmen, oder auch Privathaushalten die Waren ab. Dazu muss man wissen, dass 1959 die meisten Waren noch mit der Bahn transportiert wurden.

Dem kleinen Ludwig imponierte, wie viel Kraft dieser Ewald hatte. Er stemmte schwere bis schwerste Pakete und trug sie in Häuser, Werkstätten, oder Fabriken. Wahnsinn, wie viel Kraft der hatte. Ludwig dachte bei sich, dass er bestimmt der stärkste Mann der Welt sei.

„Darf ich Morgen wieder mit Dir fahren?“ fragte er Ewald, als sie den Güterschuppen wieder erreichten.
„Hmh, von mir aus“ war die lapidare Antwort des Hünen. So ganz begeistert schien er aber nicht zu sein.

Als sie am nächsten Morgen wieder los fuhren fragte Ewald:
„Willsch Du mei Freind sei?“
„Ha jo“, anwortete Ludwig. Welcher Zehnjährige wollte nicht der Freund des stärksten Mannes der Welt sein.
„Dann muaschd mir aber verschbrecha, dass Du a Geheimnis für Di b’halta kooschd“
Was Ewald damit meinte, war Ludwig zunächst nicht klar. Aber natürlich sagte er zu; er war ja schließlich schon ein großer Junge.
In den nächsten Tagen merkte Ludwig relativ schnell, welches Geheimnis er hüten sollte. Es hieß Paula und schien die Freundin von Ewald zu sein. Wann immer sie der Weg an Paulas Haus vorbei führte, ging Ewald hinein und sagte:
„Du bleibsch hogga, bis i wieder komm!“
Am dritten Tag hatten sie so viel Fracht auszuführen, dass Ewald keine Zeit hatte, Paula zu besuchen. Er klingelte und sie kam zur Haustüre heraus, Beide gingen hinter einen Baum und Ludwig sah, dass sich die Beiden küssten. Wie im Kino. Aber er sah noch etwas. Etwas, was ihn sehr verwirrte: Ewald griff Paula unter den Rock. Was er da wohl machte? Das kam im Kino nicht vor. Paula war mindestens ein Kopf kleiner als Ewald und hatte nicht so eine kräftige Statur wie er. Sie war eher dünn.
„Wieso hosch Du dära under da Rock naaglanget?“ Wollte Ludwig wissen.
„Dees goht Di en Scheißdreck ooh“ blaffte ihn Ewald an.
„I han dengt, mir wäret Freind, ond i derf Di des froga“ Sofort schwenkte Ewald um.
„Dees machet erwachsene Leit, wenn se sich meeget“ Das kam Ludwig komisch vor.
„Mein Vadder mag mei Muader au, aber des hot der no nia gmacht“
Ewald musste lachen: „Doch, aber edd, wenn Du drbei warsch“.
Ob das der Wahrheit entsprach, konnte Ludwig natürlich hier nicht feststellen. Er würde die Freundschaft mit Ewald auf die Probe stellen müssen. Zuvor mussten sie aber noch auf den Friedhof fahren und eine Blechkiste abladen. Auf dem Zettel, den der Ewald dabei hatte, stand: „1 Leiche“.
„Was, mir sind die ganz Zeit mit‘ ra Leich romgfahra?“ Ludwig wurde fast übel.
Ewald lachte nur, schnappte sich den Blechsarg und trug ihn alleine in die Leichhalle und ließ sich von Bestatter den Empfang der Leiche quittieren.
Jetzt war die Prüfung der Freundschaft dran. Ludwigs Ferienfreuden wurden nämlich durch Freddy, dem Nachbarsjungen getrübt. Der spielte, wie alle anderen Kinder aus der Nachbarschaft auf einem Gerüst einem Nachbarhause herum, welches offensichtlich Kriegsschäden hatte und verlassen war. Er war etwa zwei Jahre älter als Ludwig und mobbte ihn unablässig. Alleine schon, dass Ludwig „it“ anstatt „ed“ zum hochdeutsche Wort „nicht“ sagte, genügte Freddy, um Ludwig als Auslendr zu beschimpfen. Und jeden Tag schlug er ihn.
Ohrfeigen waren an der Tagesordnung.
Das berichtete er Ewald:
„So was derfsch Du dir auf gar koin Fall gfalla lassa“, polterte der los. „Au wenn der schtärker isch als Du, muasch Di wehra. Du hausch zrick, au wenn er noch no viel feschter zuahaut. Aber er muass wissa, dass er au oine griagt, wenn er Di haut“
Gesagt getan: Als Freddy am Abend auf dem Gerüst wieder schlug, trat Ludwig ihn gegen das Schienbein. Freddy war völlig überrascht, weil sich das bisher noch niemand getraut hatte. Diese Überraschung nutzte Ludwig aus, um Freddy noch eine heftige Ohrfeige zu verpassen.
Was allerdings danach passierte, war so schlimm für den kleinen Ludwig, dass ein zufällig vorbeikommender Passant Freddy von Ludwig herunterziehen musste. Unaufhörlich waren Schläge und Tritte auf ihn herunter geprasselt. Die Nase blutete, das Hemd war zerrissen und es gab keine Stelle am ganzen Körper, die Ludwig nicht weh tat. Seine ältere Cousine, die gerade nach Hause kam, sah, was Freddy da angerichtet hatte und erzählte es ihrem Vater. Der ging zu Freddys Vater, einem stadtbekannten Rauf- und Trunkenbold, um sich über dessen missratenen Sohn zu beschweren. Der allerdings warf den Onkel hochkantig hinaus.
Am nächsten Morgen erzählte er Ewald, was geschehen war, doch der meinte nur:
„Do muasch durch, Bua. Wenn er de nommol haut, gib’schem wieder oine mit, bis der’s glernt hot“, doch Ludwig war nicht nach einem neuen Kampf.
Der Zufall wollte es, dass sie Freddy zwei Tage später sahen, wie auf der Neckarbrücke stand und Dinge in den Fluss warf.
„Dees isch’r!“ rief Ludwig, „dees isch dr Freddy“
„Also guat“, meinte Ewald, „I fahr Di jetzt auf de ander Seit vom Nägger. Du laufscht auf en zua. I fahr wieder zrigg on komm von der andera Seit. Wart no, dem Birschle wer i’s zoiga“
Als sich Ludwig dem Widersacher näherte, ging der sofort in den Beileidungs- und Droh-Modus.
„Kerle, hau ab. Aber ganz schnell, oder i werf Di in da Nägger“
In diesem Augenblick kam Ewald von der anderen Seite her, packte Freddy am Schlawiddich (Schwäbisch für Kragen) und hielt ihn am ausgestreckten Arm über das Geländer der Brücke über den Fluss.
„Woisch Du Saukerle, wer do wen in da Nägger wirft? Ha!!! Er schüttelte Freddy durch und versetzte ihm mindestens fünf kräftige Ohrfeigen“
Vor lauter Angst machte sich Freddy in die Hose.
„I sodd de no grad naablotza lassa, Du Sau!“, rief Ewald und stellte den Jungen wieder auf die Brücke. „Wenn da mein Freind no oimol oolangschd, fliagschd en Nägger nei, dees kann i Dir saga! Ond jetzt gosch hoim mit Deine vrschissene Hosa“
Dass er in diesem Zustand durch die halbe Stadt gehen musste und auch noch am Haus mit dem Gerüst vorbei musste, war die Höchststrafe für Freddy. Drei Tage ließ er sich nicht mehr sehen.
Einen eindrucksvolleren Freundschaftsbeweis konnte es für Ludwig nicht geben. Nie im Leben würde ein Sterbenswörtchen über seine Lippen kommen über das, was Ewald mit der Paula machte. An ganz heißen Tagen und wenn nicht so viel Fracht auszufahren war, gingen sie nach getaner Arbeit ins Freibad, wo Paula schon auf Ewald wartete. Es schien der Frau nicht ganz geheuer zu sein, dass Ludwig dabei war.
„Brauchsch koi Angscht han, der helt sei Gosch“, sagt Ewald. Sie zogen sich immer in das äußerste Ende des riesigen Areals zurück und küssten und liebkosten sich hinter einem Busch.
„Warum heiradescht Du dia Paula it?, fragte Ludwig auf der Heimfahrt, während im Koffer-Radio Lolita sang „Seemann lass das Träumen“ und schließlich Freddy das Lied von der Deiner Sterne.
„Woisch die Paula isch a Witfrau. Dia derf’s nächste Johr no ed heirata.“
„Komisch. Was isch a Witfrau?“ wollte Ludwig wissen.
„Dr Paula ihra Mo isch erscht vor kurzem gschdorba“. Das genügte Ludwig.

Als Ewald einmal einen Tag frei hatte und Ludwig einen Tag im Güterschuppen verbrachte, fragten die Männer von der Bahn den Ludwig:
„Na habt ihr die Paula getroffen“

„Wen? Paula? Ich kenn koi Paula“, antwortete er lapidar. Ein Lehrling sagte ihm noch:
„Dui Paula isch nemlich mei Dante“
„I kenn se aber drotzdem itt“, antwortete Klein Ludwig trotzig.

Eines Abends hörte er, wie sich sein Onkel und seine Tante über Ewald unterhielten.
„Hoffentlich griagt der Ludwig nix mit, was do zwischem Pohl und dera Paula lauft“
„Ha so bleed wir der hoffentlich ed sein, das’r des no vor dem Bua macht“, erwiderte der Patenonkel.
„Du muasch den Ewald sowieso mee an d’Kandhare nemma. Neilich sei er am hella Middag im Freibad gsäa worda“
„A was“, entgegnete der Onkel, „der Ewald macht sei Arbed eiwandfrei. Wenns en Haufa zom Ausfahra gibt, no schafft der aus no bis obends om Neune, no kanner doch ens Freibad ganga, wenn er am nächschda Middag schon om halb viere fertig isch.“
„Aber dees mit där Paula, dees isch mir net geheuer. Wer woiß, was mit der ihrem Mo wirklich bassiert isch?“
„Was soll scho bassiert sei. Schwermiadich ischer gwäsa ond gsoffa hot’r au. No ischr halt zom Fenschder nausgfloge vor lauder Rausch, oder isch absichtlich nausgjuggt“
„I han do aber äbbes anders g’heert“ erwiderte die Tante.
„Ach was, a saudomms Weibergeschwätz, sonscht nix“, entgegnete der Onkel und damit war die Debatte beendet. In den späten 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten schließlich die Männer das Sagen. Emanzipation und Gleichberechtigung sollten noch 20 Jahre auf sich warten lassen.

Jetzt, nach fünf Jahrzehnten; Ludwig war gerade pensioniert worden, interessierte ihn die Geschichte von damals natürlich immer noch. Mehr noch: Er fühlte sich verpflichtet, die Sache aufzuklären und beschloss, in die Geburtsstadt seiner Mutter zu fahren, um die Geschichte von damals aufzuklären.
Sofern das noch möglich war. Sofern es überhaupt nüch Unterlagen gab.
Ludwig machte sich auf den Weg und begab sich in diese kleine Stadt am „Nägger“, wie man dort zu sagen pflegte. Wie es oft ist, hatte auch er sich mit seiner Verwandtschaft lange nicht getroffen. Noch nicht einmal Kontakt hatte man in den letzten Jahren. Seit der Onkel und die Tante tot waren, gab es zwischen den nachfolgenden Generationen praktisch keinen Kontakt mehr.

So nahm sich Ludwig ein Hotel und begab sich am nächsten Morgen frank und frei zur Polizeiwache.

Glücklicherweise hatte er noch Visitenkarten bei sich, die ihn als ehemaligen Kollegen und Mitarbeiter des Innenministeriums auswiesen. Das zahlte sich aus, denn als der Beamte die Visitenkarte sah, ging er umgehend mit dem Gast zum Dienststellenleiter.

„Oh Herr Hirschberger, welche Ehre. Sie hier auf der Dienststelle? Was verschafft und diese Ehre?“

„Erstens einmal stammt meine Mutter von hier und zweitens habe ich infolgedessen während meiner Kindheit fast jede Sommerferien hier verbracht. Meistens auf dem Güterschuppen bei meinem Onkel, dem bahnamtlichen Rollfuhrunternehmer.“

„Ach, das war Ihr Onkel und Sie haben hier Ihre Ferien verbracht? Das ist ja was ganz Neues, Überraschendes! Was kann ich denn für Sie tun?“
„Es gab in den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen mysteriösen Todesfall hier. Meines Wissens wurde der nie aufgeklärt. Ich bin jetzt pensioniert und würde mich, wenn Sie mir das erlauben, gerne die Akten von damals studieren.“ Ludwig war sofort mit der Tür ins Haus gefallen; er wollte dem freundlichen Beamten, der ihn offensichtlich von seiner Tätigkeit her kannte, offen gegenüber treten.

„Tja, normalerweise geht das ja nicht, Herr Hirschberger. Das brauche ich Ihnen gar nicht zu erzählen. Aber nachdem Sie ja ein Kollege sind und einen Fall aufklären wollen, der bei uns womöglich als cold case in den Akten liegt, will ich versuchen, was wir da machen können. Wann sagten Sie, war das ungefähr?“ Der Leiter war glücklicherweise sofort zu einer gewissen Zusammenarbeit bereit.

„Das müsste zwischen 1958 und 1960 gewesen sein“, entgegnete Ludwig.
„Jesses, da war ich ja noch gar nicht auf der Welt. So alt schon? Da muss ich aber ganz unten im Keller suchen.“ Sagte es und ging schnurstracks in den Keller. Er kam mit einer einzigen Akte zurück. „Sehr ergiebig war das nicht. Wir haben nur einen ungeklärten Todesfall in dieser Zeit gehabt: 1959, ein Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft stürzte in schwer alkoholisiertem Zustand durch das Fenster einer einen Meter sechzig hohen Brüstung einer Altane. Was ist eigentlich eine Altane? Wissen Sie das?“

„Ja, das war damals eine Art Vorbau, die als zusätzlicher Raum genutzt wurde. Stellen Sie sich einen Balkon vor, der einem Wintergarten gleich, mit einem Glasverschlag geschlossen wurde. Nur waren die Fenster damals zum Einhängen da.“

„Mitgeben, oder kopieren dürfte ich die Unterlagen ja nicht. Aber für Sie mache ich gerne eine Ausnahme. Oder besser noch: Bleiben Sie in meinem Büro und fotografieren Sie die Unterlagen. Ich habe jetzt noch eine Verkehrsausschußsitzung.

Das war natürlich ideal. Ludwig holte seine Lumix (Im Jahr 2009 war das Smart Phone noch nicht so weit verbreitet) aus der Tasche und fotografierte die kompletten Akte Seite für Seite ab. Danach begann er mit dem Lesen; schließlich wollte er noch bleiben, bis der hilfsbereite Leiter wieder zurück war. Nachdem er die Akten auch nicht mit der Geschwindigkeit eines Gernot Heubl lesen konnte, den man deshalb scherzhaft die „Aktensau“ nannte, saß er noch da, als der Polizist zurück kam.

„So, Herr Hirschberger. Ist das der Fall, den Sie meinen?“ fragte er dann auch gleich.

„Ja das ist er. Aber wenn ich das Alter der betreffenden Personen ansehe, steht zu befürchten, dass ich da nur Wenige noch befragen kann. Und nachdem auch diese Altane vermutlich nicht mehr besteht, werde ich wohl mehr aus dem Bauch heraus arbeiten müssen, als eine professionelle Fall-Analyse machen zu können“.

„So sieht es aus. Aber jetzt müssen Sie mir noch ein paar Fälle aus Ihrer Vergangenheit erzählen. Besonders die Sache mit den entführten Frauen und den Morden vom Bodensee“.
(Siehe mein Buch „Frauenduft“) Ludwig erzählte dem hilfsbereiten Leiter gut eine Stunde über verschiedene Fälle; vor allem über jene, die ihm wichtig erschienen, damit der Mann zur Zusammenarbeit mit Fall-Analytikern eingestimmt wurde. Die Beiden verabschiedeten sich. Selbstverständlich versprach Ludwig dem guten Mann, über das Ergebnis seiner Ermittlungen zu berichten.

Als Erstes musste Ludwig einen Drucker finden, auf dem er die Fotos ausdrucken konnte, die er von den Akten gemacht hatte. Eine seiner Cousinen und zwei Cousins einer anderen Tante lebten noch in der Stadt. Nachdem er die Cousine besser kannte –sie war schließlich die Tochter des Spediteurs und ging mit Ludwig auch immer ins Freibad- beschloss er, sie aufzusuchen. Aber welchen Nachnamen hatte sie jetzt? Seit er in Wien lebte, hatte er, außer bei Beerdigungen, keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Die Familie der Hirschbergers hatte nur wenig Kontakt miteinander. Sowohl mütterlicher,- als auch väterlicherseits. Er kam und kam nicht drauf. Schließlich rief er seine Schwester Jutta an, die konnte ihm nicht nur den Nachnamen sagen, sondern hatte auch Adresse und Telefonnummer.

Ludwig rief an.
„Was treibt Dich denn hierher? „ fragte die ziemlich überraschte Base. Ludwig trug sein Anliegen vor und weckte damit sofort das Interesse von ihr.
„Au ja, das freut mich, wenn Du da ermittelst. Ich kannte ja den Ewald gut. Er arbeitete ja
bei meinem Papa.“ Sie kannte sich sehr gut aus und konnte Ludwig auch sagen, dass Ewald schon in den 90-er Jahren verstorben ist, während seine Paula erst vor vier Jahren, also 2005 starb. Ludwig konnte noch die ganzen Fotos auf dem Drucker seiner Cousine ausdrucken.

„Von den Zeugen von damals leben, glaube ich, nur noch zwei. Manfred Kling, der Lehrling bei der Bahn war und auch auf dem Güterschuppen arbeitete und Freddy Meyer. Das war der Assi, der Dich immer verdroschen hat.“

„Bis der Ewald dem ein Ende gesetzt hat“ sagte Ludwig und lachte. „Der hat ihn damals am Schlawiddich gepackt und ihn über die Brüstung der Neckarbrücke am ausgestreckten Arm bedroht, dass er ihn beim nächsten Mal in den Nägger werfen würde, wenn er das noch einmal machen würde“.

„Für so etwas war der Ewald immer gut, aber er war im Grunde eine gute und treue Seele. Nur, dass man ihn beschuldigte, den Franz Wägele, den Mann von der Paula, umgebracht zu haben, das hat er nie verkraftet. Deshalb sind die Beiden auch weggezogen.“

„Weißt Du, wohin?“ wollte Ludwig wissen.

„Warte mal. Hmh.“ Nach einigen Momenten des Überlegens, meinte sie: „Ich glaube,nach Bietigheim. Mein Bruder hat es mir einmal erzählt. Er war dort Fahrer bei den Deutschen Linoleum Werken, konnte eine Rolle Linoleum alleine tragen.“

„Und die waren, weiß Gott schwer“, meinte Ludwig. „Gut, ich werde jetzt aber erst einmal hier ermitteln und mir diesen Freddy Meyer vorknöpfen. Hoffentlich verhaut er mich nicht wieder“, sagte er lächelnd.

„Wahrscheinlich musst Du den aber auf dem Asperg besuchen. (Der Asperg ist in Nordwürttemberg der Name für ein Sicherheitsgefängnis und liegt in der Nähe von Stammhein, wo die Baader-Meinhof Prozesse geführt wurden.) Der sitzt bestimmt gerade im Knast. Raub, Betrug, Einbruch, Körperverletzung, das kannste bei dem alles haben.“ Sagte die Cousine.

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“, damit spielte Ludwig auf die Vergangenheit an, als Freddy immer schon äußerst aggresiv war.

Ludwig fragte nach der Adresse und Telefonnummer von Manfred Kling, den er jetzt besuchen wollte. Im Telefonbuch konnte sie die Adresse und die Telefonnummer ausfindig machen. Nachdem man vereinbart hatte, in Kontakt zu bleiben, suchte Ludwig den früheren Bahn-Lehrling auf.

„Jaja der Ewald und Tante Paula. Das war schon ein Ding damals“, sagte Kling, als er von Ludwig auf sein Anliegen angesprochen wurde. Kling hatte Ludwig auf Anhieb erkannt, ihn aber nicht als den kleinen Jungen identifiziert, der bei seinem Onkel auf dem Güterbahnhof spielte. Ihm war er nur vom Fernsehen her bekannt.

„Die Paula war Ihre Tante?“ fragte Ludwig nach.

„Ja, sie war die Schwester meiner Mutter. Und meine Patentante. Sie hatte es nicht leicht. Glauben Sie mir“.

„Wie meinen Sie das?“ bohrte Ludwig nach, als er ihm die Geschichte aus seiner Sichtweise erzählte.

„Sie war ja mit Onkel Franz verheiratet. Der musste in den Krieg. Nach dem Krieg galt er als vermißt. Nachdem Keiner, oder fast keiner der Vermissten aus dem Krieg wieder heimgekehrt war, dachte Tante Paula, dass auch der Franz in Russland gefallen wäre. Irgendwann einmal kam dann der Ewald ins Spiel. Und ich bin nicht einmal ganz unschuldig daran!“

„Wieso“
„Na ja“, fuhr Kling fort, „ Als meine Mutter mit meiner kleinen Schwester im Wochenbett lag, wohnte ich so lange bei Tante Paula. Und die kam mich jeden Tag auf dem Güterschuppen besuchen und lernte dabei den Ewald kennen. Der Ewald war ja ein Riese und ein Kerl wie ein Bär, aber er war so gutmütig und irgendwie liebenswert.“

„Und da haben Ihre Tante Paula und der Ewald etwas angefangen miteinander“, stellte Ludwig trocken fest.

„Ja. Das war 1954. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil damals die Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz war und wir zum ersten Mal Weltmeister wurden. Aber man muss auch bedenken, dass der Krieg schon fast zehn Jahre vorbei war und die Tante Paula vom Onkel Franz nichts gehört hat. Jeder hat geglaubt, dass der Franz tot sei. So wie viele andere Tausende auch.“

Die Geschichte schrieb die Liebe der Beiden aber dann sehr nachhaltig um. Der damalige Bundeskanzler nutzte eine kleine „Warmzeit“ während des kalten Krieges aus, flog nach Moskau und sorgte dafür, dass alle noch in sowjetischer Gefangenschaft befindlichen Deutschen Wehrmachtssoldaten wieder in ihre Heimat zurückkehren durften. Darunter war auch Franz, Paulas Ehemann.

„Und da war dann für den Ewald plötzlich kein Platz mehr bei der Paula“ konstatierte Hirschberger.

„Ja zunächst schon“, erwiderte Manfred Kling. „Aber der Franz war während des Krieges und der langen Gefangenschaft ein anderer Mensch geworden. Er kam an Krücken; man musste ihm den Unterschenkel amputieren. Die Malaria hatte er sich auch angefangen. Und was das Schlimmste war: Franz war schwer traumatisiert. Nur wusste damals niemand etwas damit anzufangen. Damals sagte man: ‚der Franz ist böse geworden‘. Der Alkohol tat ein Übriges. Als die Paula eines Abends verheult, blutend und mit zahlreichen Wunden bei meiner Mutter um Hilfe bat, wussten wir, dass das nicht gutgehen konnte.“ Manfred Kling senkte den Kopf. Er redete offenbar nicht gerne über diese Sache.

„Und dann hat es zwischen Paula und Ewald wieder angefangen“, warf Ludwig ein.

„Ja. Irgendwann einmal kam die Paula wieder an den Güterschuppen, wenn der Ewald Feierabend hatte. Da wusste natürlich sofort Jeder, was da los war. Aber ich glaube nicht, dass es einer von uns war, der die Sache dann dem Franz erzählt hat. Dazu mochten wir alle den Ewald zu sehr. Und ganz ehrlich gesagt: Hatten alle auch ein bisschen Angst vor Ewald.“

„Wieso Angst“, wollte Ludwig wissen.

„Tja, der Ewald war ein sehr gutmütiger Mensch und es brauchte sehr viel, um ihr aus der Fassung zu bringen und das geschah auch sehr, sehr selten. Aber wenn, dann hat’s gewaltig gekracht. Sie müssen wissen, der Ewald hatte nahezu übermenschliche Kräfte“
„Oh ja“, erwiderte Ludwig. Das habe ich als Kind mitbekommen. Darum habe ich ihn ja auch so bewundert. Können Sie sich noch an den Freddy Meyer erinnern? Den hat er einmal mit ausgestreckter Hand über das Geländer von der Neckar-Brücke gehalten, weil er mich immer verprügelt hat.“

„Genau der Freddy war es, der dem Franz von der Geschichte erzählt hatte“, fiel Manfred Kling ein.

Das war durchaus interessant, was dieser Herr Kling erzählen konnte. Vielleicht wusste er noch mehr. Bevor Ludwig ihn noch weiter befragen würde, musste er aber zuerst den Akt studieren.
Als Ludwig sich über die Unterlagen machte, bedauerte er, seinen Freund Gernot Heubl nicht mitgenommen zu haben. Die „Aktensau“, wie er im Innenministerium genannt wurde, hatte die Fähigkeit, Akten zu überfliegen und sich deren Inhalt Punkt für Punkt zu merken. Er hatte ein so genanntes fotografisches Gedächtnis. Aber Gernot war nicht hier und so musste sich Ludwig volle zwei Tage mit dem umfangreichen Akt auseinander setzen.

„Suizid, nachdem Franz Wägele den Eindruck gewonnen hatte, seine Ehefrau Paula Wägele tot geschlagen zu haben“, war dann der Schlußsatz des Aktes. Akribisch hatte die Kriminalpolizei aus Esslingen damals alles untersucht und den Fall folgendermaßen skizziert.

„Der mit 2,6 Promille (siehe Bericht des Gesundheitsamtes) alkoholisierte Wägele legte Hand an seiner Gemahlin Paula Wägele an und misshandelte sie derart, dass diese bewusstlos wurde. Daraufhin rief Wägele den Rettungsdienst an und meldete, dass eine verletzte Frau in der Wohnung läge. Anschließend kletterte er mit Hilfe seines Rollstuhls hoch, danach stürzte er sich über die Brüstung der Altane (Höhe: 1,25 Meter), wobei er die Verglasung völlig zerstörte. Wägele muss mit großer Verzweiflung gesprungen sein, denn die Gesamte Verglasung der Altane war völlig demoliert.

Am nächsten Tag kam der 13-jährige Freddy Meyer auf dem Revier vorbei und meldete, dass es sich wahrscheinlich um einen Mord gehandelt habe und der Mörder ein gewisser Ewald Pohl sei. Auf Nachfrage, woher er das wisse, erwiderte Freddy Meyer, welcher aus sehr zweifelhaften Familienverhältnissen stamme (Man staune über die Bezeichnungen der 50-er Jahre), erwiderte dieser vorlaute Junge, dass Pohl ein Verhältnis mit der Paula Wägele gehabt hätte. Er selbst hätte Franz Wägele von dem Verhältnis „verzählt“ und wahrscheinlich habe er seine Frau deshalb so verhauen (so Freddy Meyer). Auf die Vorhaltung, dass wohl niemand in der Lage sei, einen im Rollstuhl sitzenden Menschen über eine 1,25 m hohe Brüstung zu werden entgegnete der Junge: „Doch, mit mir hat er das auch gemacht, weil ich den Buben von dr Alb raa immer verhauen habe“ (Damit war Ludwig Hirschberger gemeint. Freddy Meyer konnte den Unterschied im Dialekt zwischen der Schwäbischen Alb und Oberschwaben nicht auseinander halten). Auf die Nachfrage, wie den der Junge von der Alb hieße und wo er wohnen würde, bekamen die Beamten keine Antwort. Er sei hier irgendwo in den Ferien gewesen, wo genau, wisse er nicht.

Schlecht recherchiert liebe Kollegen. Aber auch sehr ungenau geschildert von Freddy Meyer. Er hätte sich doch denken können, wo er in den Ferien war. Er wusste ja auch, wo Ewald Pohl gearbeitet hatte. Und nachdem Ludwig vis a vis von dem Haus mit dem Gerüst wohnte und das das Haus des Spediteurs war, bei dem Ewald Pohl arbeitete, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn (also Ludwig) ausfindig zu machen und ihn zu befragen. Was hätte ich wohl gemacht, fragte sich Ludwig, wenn die Polizei mich befragt hätte. Er wäre in arge Gewissenbisse gekommen. Einerseits wäre er zur Wahrheit verpflichtet gewesen, andererseits hatte er bei Ewald einen Treueschwur abgelegt.
Aus den Akten ging hervor, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um einen Selbstmord des Franz Wägele handelte, zumal man keine Fingerabdrücke des von Freddy Meyer beschuldigten Ewald Pohl am Tatort finden konnte.

Für Ludwig war das noch lange nicht klar. Er würde noch einmal mit Manfred Kling reden müssen.

Beim nächsten Gespräch mit Manfred Kling ging Ludwig etwas mehr in die Tiefe:

„Wie war das Verhältnis zwischen Ihrer Tante Paula und Ewald, ich meine war es genau so wie vor der Rückkehr vom Franz? Ach was, komm, Duzen wir uns wieder. Haben wir doch früher auf dem Güterbahnhof auch gemacht“.

„Ja, aber da warst Du noch nicht so ein bekannter Profiler“ meinte Manfred.
„Ach was so bekannt bin ich doch nur geworden, weil ich der erste Deutschsprachige war. Hier heißt es übrigens nicht Profiler, hierzulande spricht man vom Fall-Analytiker“.

Manfred antwortete: „Nach meiner Meinung ist das Verhältnis nur noch inniger geworden. Die Tante Paula hat den Ewald abgöttisch geliebt und als der Onkel Franz so lädiert und so böse aus dem Krieg heimgekommen ist, wollte sie ihn verlassen. Das zumindest hat sie meiner Mutter erzählt“.

„Hat es aber dann doch nicht getan“, ergänzte Ludwig.

„Ja, genau. Alle haben gesagt, dass sie das nicht machen könne, nicht machen dürfe. Man darf ja nicht vergessen, dass diese Spätheimkehrer ja alle einen richtigen Heldenstauts bei uns hatten. Außerdem hatte mein Papa moralische Bedenken. Er fand, das könne man nicht machen; er hätte für sein Vaterland gekämpft und jetzt, nachdem er total kaputt nach 10 Jahren russischer Gefangenschaft in Sibirien wieder heim kommt, kann ihn seine Frau einfach nicht verlassen. ‚Des goht net ond baschta‘ hat der Papa gesagt“.

„Ich kenne mich mit diesen Dingen ziemlich gut aus. Ich bin ja in Österreich Mitglied der A.g.A. Ein Verein, der sich um Opfer häuslicher Gewalt kümmert. Auch in Wien gab es sehr viele ähnlich Fälle; viele davon endeten tragisch, wenn auch umgekehrt“
„Wie umgekehrt“, fragte Manfred verdutzt.

„ha, meistens werden die Frauen von den traumatisierten Männern ermordet, nicht umgekehrt“.

„Halt,“ rief Manfred empört. „Die Tante Paula hat den Franz nicht umgebracht. Die kpnnte das gar nicht gemacht haben. Die war ja bewusstlos geschlagen und musste ins Krankenhaus gebracht werden“.
„So habe ich das nicht gemeint“, entschuldigte sich Ludwig, „das bezog sich nur auf die Opfer. Und so gesehen war Deine Tante sicher ein Opfer“.

„Ja, das war sie wirklich. Immer öfter kam sie grün und blau geprügelt weinend zur Mama. Da wurde es sogar Papa zu bunt. Er ging zum Franz und wollte ihm die Leviten lesen. Aber der hat ihm so seinen Stock auf den Kopf gehauen, dass der Papa eine Woche nicht zur Arbeit gehen konnte. Danach hat er gemeint, dass man jetzt einschreiten muss, weil der Franz die Tante Paula sonst noch tot schlägt. Ja und dann hat man beschlossen, dem Ewald einen Hausschlüssel nachmachen zu lassen. Und von nun an wartete der Ewald jeden Abend vor dem Haus, in dem die Tante Paula mit dem Franz wohnte, egal, welches Wetter. Egal, ob es blitzte, donnerte, oder gescheit hat, Ewald war da und passte auf die Tante Paula auf. Meistens nutzte es etwas, denn der Ewald schrie oft am Haus hinauf: Wart no, wenn i Di verwisch, no lebscht nemme lang!“ Manfred Kling erschrak. Das hatte er dem Profiler eigentlich nicht erzählen wollen.

Ludwig war ebenfalls überrascht. Für ihn bekam der Fall dadurch eine dramatische Wendung. Wenn Ewald Pohl mitbekommen hat, dass der Franz die Paula halb tot schlägt, dann ist die Suizid-Theorie nicht mehr haltbar, dann ist es sogar sehr wahrscheinlich, dass Ewald Pohl seinen Widersacher über die Brüstung der Altane durch die geschlossenen Fenster geworfen hatte. Wie sagte Manfred Kling: ‚Beim Ewald hat’s viel gebraucht, bis er richtig böse wurde. Aber wenn, dann richtig.

„Das habe ich jetzt gar nicht gehört“, antwortete Ludwig. „Außerdem wäre so etwas längst verjährt. Mache Dir keine Gedanken Manfred. Diese Information bleibt bei mir. Und nur bei mir.“

Nachdem sich Manfred Kling beruhigt hatte, meinte er: „Weiß Du Ludwig, jetzt ist mir’s richtig wohler. Mein ganzes Leben lang habe ich das wie einen Ballast mit mir herum getragen, hatte immer Alpträume, weil ich einen Mord nicht gemeldet habe. Endlich konnte ich mit einem Menschen darüber reden.“

„Ja, das kann ich mir vorstellen. Außerdem: Wenn man das damals entdeckt hätte, wäre der Ewald ganz sicher nicht als Mörder verurteilt worden. Schlimmstenfalls wegen Totschlag im Affekt. Wahrscheinlich aber nur wegen fahrlässiger Tötung bei einer Hilfeleistung.“
Danach verließ Ludwig einen sichtlich erleichterten Manfred. Die Wahrheit befreit manchmal doch, dachte er sich.

Am nächsten Morgen brachte er die Unterlagen auf die Dienststelle zurück.
„Na, Herr Hirschberger, was präsentieren Sie mit jetzt für einen Mörder?“, scherzte der Dienststellenleiten.
„Keinen, absolut keinen. Die Unterlagen beweisen eindeutig, dass es sich um einen Suzid handelte. Wissen Sie, irgendwie beruhigt mich das. Mein ganzes Leben habe ich das immer mit mir herum getragen. Deswegen bin ich auch hier her gekommen. Ich wollte das ein für allemal geklärt haben“.

Nachdem er sich vom Dienstellenleiter verabschiedet hatte, überlegte er noch lange. Diesen netten Mann, diesen hilfsbereiten Dienststellenleiter hatte er glatt und sauber belogen. Wider besseren Wissens hatte er die Hypothese vom Suizid des Franz Wägele bestätigt. Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nicht. Denn die Frage war doch: Qui Bono? Wem hätte das Wissen, welches sich Ludwig angeeignet hat, genutzt? Niemand! Eine Akte hätte umgeschrieben werden müssen. Ein Suizid aus den 50-er Jahren des vorigen Jahrhunderts in einen Totschlag umgewandelt. Außerdem: Freundschaft, wahre Freundschaft gilt über den Tod hinaus.

Auch für einen ehemaligen Polizei-Beamten?

Ewald und Paula

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